Klage eines langjährigen Gutsbesitzers bezüglich seines Verwalters

Auch ich bin ein Gutsbesitzer. Der Gegenstand meines Besitzes ist mein Gedankengut. Dabei handelt es sich um einen, teils auch kostbaren, insgesamt aber unübersichtlichen, sogar widersprüchlichen Bestand, mit unsicheren Grenzen und auf einem Traggrund, über dessen Beschaffenheit in der Tiefe ich bedenklich wenig weiß. Dennoch ist der Ertrag meines Gutes insofern zufriedenstellend, als ich davon oder zumindest damit leben kann. (Es freilich noch erheblich besser sein könnte, wäre da nicht dieser Verwalter.)

Es dürfte allerdings Nachbar geben, die mich darob träger Selbstbescheidung zeihen, also letztlich der Verfehlung meiner Bestimmung als Eigentümer eines Gutes der besagten Art. In der Tat vermute auch ich selbst gelegentlich, daß nicht ausschließlich Mißgunst oder Mäkelsucht ihnen solches Urteil eingeben. Allerdings ist es um die Vorbildlichkeit der meisten meiner Kritiker in diesem Punkt ebenso wenig zum Besten bestellt; jedenfalls derer, die meine Nachbarschaft bilden, und mit denen ich regelmäßig Umgang pflege.

Auf die (übrigens von niemandem gestellte) Frage, wie das in Rede stehende Gut in meinen Besitz gelangt sei, ließe sich nur im allgemeinen Sinne, mithin nur antworten, daß es in seiner gegenwärtigen Gestalt das ganz einzigartige Ergebnis meiner langjährigen Eigentümerschaft "als solcher" oder "an sich" ist. Es wäre also weder zutreffend anzunehmen, es sei mir als Erbe zugefallen, noch auch, ich hätte es im Verfolg streng zielgerichteter Bewußtseins- und Willenstätigkeit planvoll aufgebaut oder mir erworben. ES MUSSTE SICH, AN MEIN EXISTIEREN GEKNÜPFT, NOTWENDIG HERSTELLEN, ohne daß zuverlässig zu unterscheiden oder gar zu belegen wäre, zu welchem Zeitpunkt, aus welchem Grunde, zu welchen Teilen und unter welchem Zeichen dieses oder jenes hinzutrat, damit der heutige Besitzstand sich bilden könne. Ohne Zweifel sind unbestimmte Anteile von Ererbtem ebenso darunter wie Früchte zeitweiligen angestrengtem Wissenerwerbs und Denkbemühens; vor allem jedoch vielfältig Geschenke, die einer vorwiegend in Offenheit verfolgten Lebensspur so unvorhersehbar wie stetig zuteil werden.

Das Problem aber ist mein Gutsverwalter.

Um das zu präzisieren: Es ist die Tatsache, daß er wechselnde, insgesamt aber ständig wachsende, Teile meines Gedankenguts meiner Verfügungsgewalt vorenthält, sei es für den vergehenden Augenblick, sei es für eine längere Zeitspanne oder sogar unwiderruflich. Und: daß ich gegenüber dieser seiner Macht ihn Ohnmacht verharren muß.

Ich hatte mir den Verwalter seinerzeit nicht aussuchen können, er gelangte mit den allerersten Anfängen des Guts und sodann in ebendenselben Schritten zu mir, in denen es sich entwickelte. Zwar ist ihm zuzugestehen, daß seine Aufgabe vom Anfangstag an ständig umfangreicher, somit verwickelter und beschwerlicher wurde. Denn es umfassen seine Pflichten ja nicht nur die Kenntnis der unablässig sich ändernden Erstreckung, d.h. des mengenhaften Bestandes meines Guts; sondern auch das Wahrnehmen der Bedeutung, die ich diesem oder jenem Teil des Terrains zu einem bestimmten Augenblick gerade beimesse. Und dieses "gerade" heißt ja nichts anderes, als daß die erwähnte Bedeutung häufigen Wechseln unterworfen ist, (grob gesagt zu "größer" oder "geringer",) deren Herr ich auch nicht selbst bin. Sondern die ich als Zugeteiltes, Gewährtes und Verhängtes hin- und anzunehmen habe. Das hat man sich so vorzustellen, daß unvermittelt dieser oder jener Teilbereich des Guts der Verödung anheimfällt oder sich als unbemerkt von mir preisgegeben erweist, während, im besseren Fall jedenfalls, andere Bereiche dafür eine Neuordnung, eine Intensivierung der Bestellung oder überhaupt eine Anreicherung unbestimmbarer Art erfahren, sodaß sie daraufhin in der Regel einen höheren Ertrag abwerfen und die Bilanz am Ende wieder ausgeglichen scheint. Oder es tatsächlich sogar ist, wofür es allerdings an gesicherten Kriterien mangelt.

Alledem zum Trotz geht mein Verwalter mit den vorbezeichneten Problemen, wie ich behaupte, über Gebühr und schmerzhaft unzuverlässig um. Allzuhäufig versagt er sich mir, und mir damit den Zugang zu Teilen meines Gutsbestandes, und das oft genug noch im unzeitigen Augenblick.

Doch vermag ich auf keinerlei Weise mich von ihm zu trennen oder ihm eine unverbrauchte und zuverlässigere Kraft an die Seite zu stellen; vermochte das auch zu keinem Zeitpunkt vorher, werde also bis zum Erlöschen meiner Gedankengutsbesitzerschaft an ihn geschmiedet sein wie an meinen Bartwuchs oder das System meiner Drüsen. Er heißt Meinge Dächtnis, und einen, der mir geringeren Anlaß zur Klage gäbe, werde ich mir nie mehr verpflichten können.

(c) Wilfried Schröder 1986